Die überraschende Schattenseite eines Narziss

Narzissmus hat seinen Namen von einem schönen Jungen in einem antiken griechischen Mythos, berühmt von Ovid erzählt. Der mythische Narziss verliebte sich nicht in eine echte Person, sondern in sein Spiegelbild im Wasser eines Teiches. Er starb an Herzschmerz, weil sein schönes Selbst ihn nicht liebte und als eine duftende weiße Blume wiedergeboren wurde: die Narzisse.

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Quelle: Wikimedia Commons: öffentliche Domäne

Der Mythos faszinierte Schriftsteller, Dichter und Künstler im Laufe der Jahrhunderte als Symbol unerwiderter Liebe. Im 19. Jahrhundert passte Sigmund Freud den Mythos an eine bestimmte Art von Dynamik an, so wie er den Mythos des Ödipus einer anderen Persönlichkeit anpasste.

Für Freud wie für spätere Psychoanalytiker wie Heinz Kohut wurde der Narzissmus in Bezug auf die Beziehung zum Therapeuten betrachtet. Freud verstand den Narzissmus als Lebensenergie. Er glaubte, dass die Energie des Narzissten in sich selbst gefangen ist und somit keine wirkliche Beziehung zum Psychoanalytiker (dh eine Übertragung) eingehen kann. So dachte Freud, dass Narzissmus von der traditionellen Psychoanalyse nicht behandelbar sei.

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Spätere Therapeuten fanden heraus, dass die Gefühle von Grandiosität und Überlegenheit des Narzissten eigentlich Abwehrmechanismen sind, die ein fragiles und fragmentiertes Selbst schützen. Unter den Verteidigungen liegt erheblicher Schmerz, Selbsthass und Fragmentierung des Selbst. Der Dichter Ovid schildert geschickt diese Zersplitterung des Narzissmus, indem er beschreibt, wie Narziss 'Tränen in den Teich fallen und das reflektierte schöne Bild verwischen und erschüttern.

Der Psychiater Heinz Kohut, der in den 1970er Jahren in Chicago schrieb, war vielleicht der berühmteste frühe Forscher zur narzißtischen Persönlichkeitsstörung. Kohut erweiterte Freuds Ansicht und argumentierte, dass ein Narzisst eine andere Qualität der Beziehung zum Therapeuten hat als der normale Gartenvirtuose neurotische Patient. Ein Narzisst erlebt den Therapeuten als ein Möbelstück oder einen Bauern, der zu seiner Bequemlichkeit bewegt wird. Er hat keine wirkliche Verbindung mit dem Therapeuten als getrenntem Individuum. Der Therapeut, wie auch andere in der Welt des Narkisten, Kohut, existieren als "Selbstobjekte" oder "Selbstobjekte".

Der Therapeut existiert nur als Spiegel des idealisierten Selbst des Narzissten. Kohut nannte dies die "Spiegelübertragung", um sie von der Art der Übertragungsbeziehung zu unterscheiden, die Freud identifizierte. Kohut glaubte, dass die Therapie mit einem Narzissten nicht unmöglich war, aber er dachte, dass es wegen des unersättlichen Bedürfnisses des Narzisssten nach Selbstspiegelung und Einfühlungsvermögen endlos sein musste.

Wie werden Menschen zu Narzissten? Kohut argumentierte, dass die narzisstische Persönlichkeit früh im Leben gebildet wird, wenn ein Kind genügend Aufmerksamkeit und Liebe von seiner Mutter fehlt. Während sich ein bloß neurotischer Mensch in der frühen Kindheit in seine Eltern verliebt, erfährt der Narzisst nicht genug liebevolle Eltern in seiner Welt, in die er sich verlieben kann. In einer moderneren Sprache könnten wir diese unsichere Bindung nennen. So verliebt er sich sozusagen in sich selbst – oder vielmehr in ein idealisiertes Selbstbild. Kohut glaubte, dass diese Elternabwesenheit eine tiefe Quelle von Schmerzen für das Kind und später für den Erwachsenen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung war.

Seit Kohut glauben viele zeitgenössische Therapeuten, dass Narzissmus in der Psychotherapie behandelt werden kann – mit genug Zeit, Geduld und unerschütterlicher Empathie seitens des Therapeuten. Der Therapeut existiert zunächst nur als Spiegel und spiegelt die guten Eigenschaften des Narzissten wider. Aber schließlich wird der Narzisst sicher genug, um den Therapeuten als echte Person zu erleben.

Copyright © Marilyn Wedge, Ph.D.

Marilyn Wedge ist die Autorin einer Krankheit namens Kindheit: Warum ADHS eine amerikanische Epidemie wurde

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