Alles neu denken, was wir über Sucht denken

Jahre der wissenschaftlichen Forschung haben uns gelehrt, dass Sucht eine chronische Gehirnerkrankung ist. Aber im Vergleich zu medizinischen und technologischen Durchbrüchen bei anderen chronischen Krankheiten, wie Typ-2-Diabetes, haben Fortschritte in der Drogen– und Alkoholbehandlung nicht Schritt gehalten. Trotz einer breiten Palette von Genesungsoptionen bleiben die Rückfallraten hoch. Überall auf der Welt steigt die Zahl der Alkohol- und Drogenabhängigen jedes Jahr weiter an.

Es besteht dringender Bedarf, die Behandlung zu verbessern und den Zugang zu qualitativ hochwertiger Versorgung zu verbessern. Um diese Ziele zu erreichen, müssen wir verstehen, wie die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse die seit langem bestehenden Überzeugungen hinsichtlich der Abhängigkeit und unserer Behandlung in Frage stellen.

Sex, Food und Drogen: Ein Hintergrund zur Sucht

Unter normalen Umständen reagieren unsere Körper auf natürlich vorkommende Reize wie Essen und Sex, indem sie Genuss-Signale an unser Gehirn senden. Unsere Gehirne haben sich entwickelt, um Essen und Sex als lustvolle Beschäftigungen zu interpretieren, weil sie das Überleben unserer Spezies gesichert haben. Wenn wir uns an solchen Aktivitäten beteiligen, wird Dopamin, ein Neurotransmitter, in den Nucleus accumbens freigesetzt (gemeinhin unser Lustzentrum genannt) und voila! Wir fühlen uns gut. In ähnlicher Weise verursachen süchtig machende Substanzen Vergnügen, indem sie den Nucleus Accumbens mit Dopamin überschwemmen. Suchtmittel geben jedoch typischerweise 2 bis 10 Mal mehr Dopamin frei als ihre natürlich vorkommenden Gegenstücke.

Ausgerüstet mit diesen Erkenntnissen kamen die meisten Wissenschaftler und Mediziner zu dem Schluss, dass die Freisetzung von Dopamin in die Signalwege unseres Gehirns ganz oder zumindest größtenteils für die verstärkende Wirkung von Medikamenten verantwortlich ist. Die so genannte Dopamin-Hypothese erklärte, dass die durch Drogen verursachte Freude zu einer Wiederholung von Verhaltensweisen führte, die zu Euphorie, Zufriedenheit und Freude führten.

Über die Dopaminhypothese hinausgehen

Wenn Dopamin der Hauptverursacher der Sucht ist, sollte jeder, der Drogen konsumiert, süchtig werden, und alle Suchtmittel sollten austauschbar sein. Aber die Wissenschaft zeigt, dass beides nicht der Fall ist. Tatsächlich werden weniger als 10% der Menschen, die Alkohol und andere Drogen konsumieren, süchtig, und Suchtstoffe sind nicht austauschbar. Zum Beispiel ist Nikotin kein Ersatz für Heroin, Marihuana ersetzt nicht Kokain, und Alkohol ist kein Ersatz für Amphetamine. So kann Vergnügen nicht die alleinige Ursache von Sucht sein.

Dank Quantensprüngen in der Bildgebungs-Technologie erkennen Experten an der Spitze der Suchtforschung, dass Alkohol und andere Drogen im Laufe der Zeit physische Veränderungen in verschiedenen Teilen des Gehirns verursachen. Zum Beispiel beeinflussen Drogen Gehirnregionen, die Lernen, Gedächtnis, Gefühle und Stimmung beeinflussen. Neue Studien zeigen immer wieder, dass es diese Veränderungen sind, die Süchtige dazu bringen, von ihrem Medikament der Wahl besessen zu werden.

Obwohl der Drogenkonsum mit der Aktivierung des Dopamin-Vergnügens im Gehirn beginnt, verändert er auch andere Teile des Gehirns. Zusammen ergeben diese oft eine Sucht. Daher ist die Aktivierung des Lustzentrums des Gehirns der primäre Ausgangspunkt der Sucht. Aber sobald eine Person gewohnheitsmäßig Drogen nimmt, beeinflusst ihre Verwendung andere Gehirnregionen. Und diese Bereiche haben wenig mit dem lohnenden Einfluss von Drogen zu tun.

Neue Interpretationen der aktuellen Behandlungsmethoden

Wie nutzen wir diese Informationen, um die Behandlung von Süchtigen zu verbessern? Erstens müssen wir frühere Ansätze neu bewerten. Zum Beispiel glaubten viele Gesundheitsexperten, dass die Kontrolle des Dopaminspiegels bei Süchtigen die Abhängigkeit verringern oder sogar heilen könnte. Aber mehr als 20 Jahre Forschung haben wiederholt gezeigt, dass Behandlungen, die primär auf den Dopaminspiegel ausgerichtet sind, nicht wirksam sind. Obwohl die Dopaminspiegel kontrolliert werden, wie die Sucht beginnt, werden die Gründe für langfristigen Drogenmissbrauch nicht angegangen. Es stellt sich also die Frage, mit welchen Behandlungsansätzen die meisten Menschen das bestmögliche Ergebnis erzielen können.

Hierin liegt der Schnittpunkt zwischen bewährten 12-Schritte-Prinzipien und wissenschaftlich und medizinisch basierten Ansätzen. Wir verstehen jetzt, dass Sucht nicht nur auf Dopaminabhängigkeit reduziert werden kann. Tatsächlich sind 12-Schritt-Programme, wie die Anonymen Alkoholiker, gerade deswegen wirksam, weil sie die Veränderungen in anderen Bereichen des Gehirns ansprechen, die die Sucht beeinflussen.

Beide Gruppen – die 12-Stepper und die wissenschaftliche Gemeinschaft – müssen voneinander lernen, um das Beste aus beiden Welten in der Behandlung zu bieten. Zwölf-Stepper sollten wissenschaftliche Fortschritte nicht ignorieren, die unseren Umgang mit Sucht verändern, aber die wissenschaftliche Gemeinschaft sollte die Bedeutung der Schritte bei der Behebung von Gedächtnisdefiziten und der Wiederherstellung einer Verbindung zur Gemeinschaft durch Empathie und Dienst nicht unterschätzen.

Wenn die Stärken von 12-Step und den wissenschaftlichen und medizinischen Communities zusammenkommen, haben Süchtige Behandlungsoptionen, die eine schnellere und länger anhaltende Genesung ermöglichen.

David Sack, MD, ist Vorstand in Suchtmedizin und Suchtpsychiatrie zertifiziert. Als CEO von Elements Behavioral Health betreut er eine Reihe von Suchtbehandlungszentren. Er war als leitender klinischer Wissenschaftler am National Institute of Mental Health (NIMH) tätig, wo seine Forschungsinteressen affektive Störungen, saisonale und zirkadiane Rhythmen sowie Neuroendokrinologie umfassten. Sie können Dr. Sack auf Twitter folgen.