Offener Brief an Angela Merkel von 100 Sozialpsychologen

Es folgt ein offener Brief an die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Angela Merkel, von 100 deutschen Sozialpsychologen zum Thema Umgang mit der Flucht aus sozialpsychologischer Sicht nach Deutschland. Wir veröffentlichen es in der Überzeugung, dass es für unsere Leser von Interesse sein wird. Bitte beachten Sie, dass der Brief abgesehen von kleineren Formatierungsproblemen vollständig wiedergegeben wurde, mit Originalübersetzung von Prof. Dr. Ulrich Wagner, einem der Hauptverfasser des Briefes.

15. September 2015

Angela Merkel
Kanzler
Die Bundesrepublik Deutschland

cc.
Mitglieder des Deutschen Bundestages
Die Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer
Die Mitglieder der Parlamente der deutschen Bundesländer

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

Umfragen zeigen derzeit eine große Zustimmung von Flüchtlingen, in Deutschland Zuflucht zu finden. Die Flüchtlingshilfe der deutschen Bevölkerung ist beeindruckend. Diese positiven Einstellungen stehen jedoch auf dem Spiel, da sie möglicherweise nicht stabil sind und sich zumindest für Teile der Gesellschaft in Verurteilung oder sogar aktive Ablehnung und Gewalt verwandeln können. Eine solche Entwicklung hätte massive Auswirkungen auf Flüchtlinge und den sozialen Zusammenhalt in Deutschland und Europa. Aus einer sozialpsychologischen Perspektive sind einige Entwicklungen alarmierend, aber mit dem entsprechenden Willen auch vermeidbar. Daher fühlen wir uns dazu verpflichtet, das Thema aus wissenschaftlicher Sicht zu kommentieren.

Sowohl die Unterstützung als auch die Ablehnung von Menschen und Gruppen hängen stark von Gefühlen ab. Empathie (dh das Verständnis der Situation der anderen und das Einfühlen in ihren mentalen Zustand) treibt altruistisches Verhalten an. Im Gegensatz dazu werden Vorurteile, Diskriminierung und Gewalt besonders durch Angst, aber auch durch Wut gefördert. Der aktuelle Stand der Zuwanderung nach Deutschland ist unklar. Nachrichten über eine große Anzahl von Menschen, die täglich nach Deutschland kommen, sind beunruhigend. Viele Menschen sind sich nicht sicher, wie sie diese Situation beurteilen sollen. Sie holen Informationen von Freunden, sozialen Netzwerken, Politik und Medien.

1. Politiker, Meinungsführer, Behörden und die Medien müssen klare Antworten und Lösungs- prozesse geben. Dies reduziert Unsicherheit, Angst und Wut. Außerdem müssen Menschen in einer vorhersehbaren und gerechten Welt leben. Wenn wir erleben, dass andere oder wir ständig Unrecht, Diskriminierung oder Gewalt ausgesetzt sind, neigen wir dazu, die Opfer zu beschuldigen. Es besteht eine große Gefahr, dass Flüchtlinge für ihr Schicksal verantwortlich gemacht werden, wenn ihr Leid nicht gemildert wird. Es ist notwendig und überfällig, dass politische Entscheidungsträger ernsthafte Anstrengungen unternehmen, um Gesetze zu verabschieden, die es Asylbewerbern ermöglichen, Zuflucht zu beantragen, ohne zuvor ihr Leben riskieren zu müssen. Klarstellung bedeutet auch einen humanen Aufnahme- und Aufnahmeprozess sowie eine faire und zügige Entscheidung über den Asylantrag. Für Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland und Europa kommen, fehlt es an Alternativen – Asylanträge können in dieser Hinsicht keine angemessene Lösung sein. Besonders wichtig sind klare Antworten darauf, wie Deutschland und Europa mit Kriegen, katastrophalen wirtschaftlichen Bedingungen und Diskriminierungen in den Herkunftsländern umgehen, weil diese Bedingungen Menschen in die Flucht schlagen.

2. Die radikale Rechte versucht, die Unsicherheit über den Einwanderungsdiskurs für eigene politische Ziele zu nutzen. Sie kreieren Horrorszenarien, um negative Emotionen und damit Ablehnung in der Bevölkerung anzuregen. Die politische Ausbeutung der Not von Flüchtlingen ist für demokratische Parteien inakzeptabel.

3. Negative Emotionen, Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt gegenüber anderen entstehen insbesondere mit dem Eindruck, dass die anderen etwas von "uns" wegnehmen oder wichtige Werte oder Lebensstile bedrohen, die uns wichtig sind. Diese Gefahr besteht vor allem dann, wenn eine unzureichende Finanzierung (z. B. auf kommunaler Ebene) einen Ressourcenkonflikt zwischen der Unterbringung von Flüchtlingen und öffentlichen Einrichtungen oder Dienstleistungen verursacht. Die Aufnahme von Menschen sollte mit möglichst geringen Einschränkungen für die hier lebenden Menschen verbunden sein.

4. Die Einwanderung ist auf mittlere und lange Sicht ein Gewinn für alle Beteiligten, eine Tatsache, die bei weitem nicht genug berücksichtigt und betont wird. Die Altersverteilung wird sich zum Besseren wenden: Mehr junge Menschen werden zur Sicherung der Altersversorgung beitragen. Die Zuwanderung wird dazu beitragen, den Fachkräftemangel für viele Berufe zu überwinden. Außerdem wird die Einwanderung dazu beitragen, die Infrastruktur auf lokaler Ebene zu erhalten, wie Kindertagesstätten, Schulen, Sportvereine oder kleine Läden, die ansonsten in einer schrumpfenden Gemeinschaft schließen müssten.

5. Die Ungewissheit, mit Flüchtlingen umzugehen, ist besonders hoch für Menschen, die keine Erfahrung mit Immigration haben – insbesondere Menschen fürchten das Unbekannte. Kontakt hilft, Vorurteile zu überwinden. Englisch: www.germnews.de/archive/dn/1995/02/11.html Befragungen (unter anderem zu den aktuellen Angaben zur Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland) zeigen eine stärkere Ablehnung von Zuwanderern für die Menschen im Osten als im Westen Deutschlands, der unter anderem auf eine historisch bedingte geringere Zuwanderung in Deutschland zurückgeht der Osten und damit die Chancen auf Erfahrungen mit der Einwanderung reduziert. Die Zuweisungen von Flüchtlingen in Deutschland müssen stärker jene Länder, Regionen und Nachbarschaften erfassen, die bisher nur wenig von Zuwanderung profitiert haben. Sonst drohen diese Regionen in ihrer Entwicklung interkultureller Kompetenz überholt zu sein. Darüber hinaus können insbesondere ländliche Regionen, die nicht gedeihen, ihre Infrastruktur durch Zuwanderung verbessern.

6. Die gegenwärtig schwindende Solidarität der Europäischen Union bedroht ihren Ruf durch und durch, was die Identifikation der Bürger und ihre Bereitschaft, diese Gemeinschaft zu unterstützen, stark beeinträchtigen wird. Europa muss einen kollektiven, solidarischen und humanitären Ansatz für die sogenannte Flüchtlingskrise finden.

Sehr geehrte Frau Merkel, meine Damen und Herren,

Die oben genannten Bemerkungen betreffen die aktuellen Probleme. Wir haben uns nicht mit mittel- und langfristigen Maßnahmen befasst. Eine Mehrheit der Menschen, die heute als Flüchtlinge zu uns kommen, werden dauerhaft bleiben. Erfolg oder Misserfolg ihrer Integration wird das zukünftige Gesicht Deutschlands und Europas prägen. Im Moment ignorierten wir die aktuelle Situation der Flüchtlinge in den Aufnahmezentren und lokalen Gemeinschaften. Aus der Perspektive unserer Disziplin sind Verbesserungen auch in diesen Kontexten notwendig.

für mehr als 100 Sozialpsychologen:

Prof. Dr. Ulrich Wagner,
Philipps-Universität Marburg,
[email protected]

siehe http://www.uni-marburg.de/fb04/team-wagner/aktuelles